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»Unter|scheidung Zeit: hier bin ich - dort war ich?« Jutta Franzen


»Wiederholen heißt sich verhalten, allerdings im Verhältnis zu etwas Einzigartigem oder Singulärem, das mit nichts anderem ähnlich oder äquivalent ist. [...]

Das Geschäft des Lebens besteht darin, alle Wiederholungen in einem Raum koexistieren zu lassen, in dem sich die Differenz verteilt.«

Gilles Deleuze [1]

 

 

»Die Unter|scheidung Zeit und Raum«.

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»Unter|scheidung Raum: von 3D Körpererfahrungen zu Nano-Topologien« Stella Veciana.

»Es gibt ein Spiel, das Kinder spielen, wenn die Flut kommt. Sie bauen um sich herum eine vermeintlich undurchdringliche Sandmauer, um das Wasser so lange wie möglich draußen zu halten. Natürlich sickert das Wasser von unten durch und irgendwann durchbricht es die Mauer und überflutet alle. Erwachsene spielen ein ähnliches Spiel. Sie umgeben sich mit einer vermeintlich undurchdringlichen Mauer aus Argumenten, um die Wirklichkeit draußen zu halten. Doch die Wirklichkeit sickert von unten durch, durchbricht irgendwann die Mauer und überflutet uns alle.«
George Spencer-Brown [2]

»Unter|scheidung Zeit: hier bin ich - dort war ich?«
Jutta Franzen


Erste Phase der Wiederholung: sich im Fremden wiedererkennen

Ein fremder Ort. Das Gefühl von Fremdheit, aber gut. Neu-Gier auf das, was ich noch nicht kenne. Bevor ich zur Erkundung aufbreche, der Blick in den Spiegel.

Und ein (erstes) Foto: Ich im Spiegel, bisweilen von der Kamera verdeckt, immer zu sehen ist, wie ein Rahmen, die Umgebung. Der Beweis, ich bin hier.

Wiedergeholt im Blick auf das Foto, später, irgendwann, die Erinnerung: dort war ich.

Im Augenblick vergegenwärtigt, doch so flüchtig wie zuvor das Spiegelbild, vorbei, vergangen.

Ein weiterer fremder Ort, eine andere Zeit, Wiederholung desselben Ablaufs: Erregung durch das Fremde, Blick in den Spiegel, Fotografieren. Ein Schwanken zwischen dem Verdruss von Routine – du musst noch das Foto machen – und der Wahrnehmung, dasselbe ist dieses Mal anders.

 

 

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»Unter|scheidung Raum: von 3D Körpererfahrungen zu Nano-Topologien« Stella Veciana

Tenkan
Aikido-Topologien: Tenkan Spuren am Strand. Fotos: Stella Veciana.

Um eine Beobachtung unserer Umwelt zu machen, müssen wir unterscheiden was zu einer Beschreibung oder Bezeichnung gehört und was nicht, »Draw a distinction!«, so George Spencer-Brown. Diese zwei Seiten einer Unterscheidung ergeben die Einheit einer Form: »Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind in der Form, identisch gleich. Das heißt, die identische Form oder Definition oder Unterscheidung agiert als die Grenze oder Beschreibung sowohl des Dinges als auch dessen, was es nicht ist« schreibt der Mathematiker und Musiker in »Laws of Form«.

Wie lässt sich eine Beschreibungsform für die Grenze, die Differenz oder die Unterscheidung verschiedener Raumebenen finden? Die Bilderserie Nano-Topologien | Tenkan arbeitet mit der Unterscheidung im Raum. Ausgangspunkt ist die Erforschung von Körperbewegung und Körpersprache im dreidimensionalen Raum. Wie kann eine Bewegung aus der Drei-dimensionalität menschlicher Erfahrung in einen nanoskaligen Raum übertragen werden?

Fotoserie

Fotoserie: Jutta Franzen.

Zweite Phase der Wiederholung: in Serie gehen


Setting: Fremder Raum, Spiegel, Ich, Kamera.

Das Raster des Wieder-Holens tritt hervor, jenes Spiel der Differenzen, das mit den Unterschieden zugleich die Überschneidungen erkennen lässt.

Meine Zeitlinie der individuellen Erinnerung verschwindet hinter der Gleichzeitigkeit einer seriellen Erscheinung.

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Tenkan_bild

Aikido-Topologien, Foto: Stella Veciana.

Tenkan ist eine Bewegungstechnik der japanischen Kampfkunst des Aikido, die ich über Jahre am Strand praktiziert habe. Der Bewegung folgen Strandspuren. Je präziser die Ausübung der Bewegung ist, um so deutlicher wird ihre Markierung im Sand erkennbar. Diese Spuren der Bewegung bestimmen eine visuelle Unterscheidung. Durch die Übertragung der Sandspuren in eine schwarz-weiß Fotografie bekommt die anfängliche Unbestimmtheit eine Form, die sich in einer zweidimensionalen Raumebene verdeutlicht.

Die Form trennt eindeutig den Bildraum zu einem markierten und einem unmarkierten Raum. Die Form wird zum Vorstellungsraum, zu dem was den Inhalten eine Struktur gibt, und die Struktur wiederum wird zum Möglichkeitsraum, zu dem was in der Form enthalten sein kann. Diese Definition von Form verbindet, die Unterscheidung mit dem markierten und dem unmarkierten Raum. Daraus ergibt sich die Hypothese, dass »Laws of Form« ein spannendes mentales Werkzeug für die Integration von verschiedenen Raumperspektiven sein kann.


Franzen Foto Sharing
Foto teilen: Jutta Franzen.

 

Dritte Phase der Wiederholung: Ver-teilen

Ich teile meine Fotos. Der gemeinsame Abend mit Freunden und Reiseerzählungen wird ergänzt oder ersetzt durch das sharing der Fotos im sozialen Netzwerk.

Einem viralen Verlauf der Verbreitung überlassen, erreichen meine Fotos längst nicht mehr nur Freunde und Bekannte. Die Schwelle des Privaten wird zum Öffentlichen überschritten.

Und die Fotos können über das Betrachten hinaus re-editiert, in andere Kontexte eingebunden werden. Wiederholung wird zur Aneignung, zum copy and paste.

Es eröffnet sich die Differenz vom Bekannten zum Möglichen, von der Zeitlinie persönlicher Erfahrung zum zeitlosen Möglichkeitsraum.

Die Fremdheit, die am Anfang jeder Wiederholung stand und im Foto mein Selbstbild im Spiegel als Rahmen umgab, setzt sich fort: als „selfie“ verliert sich mein Foto, meine Erinnerung in der Fremdheit des Netzes.

Franzen SharingFotos teilen: Jutta Franzen.

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Tenkan Nano»Nano-Topologien |Tenkan« wurden gemeinsam mit der Nanobioingenieurin Dr. Elena Martínez im Reinraum einer Nanotechnologie-Labors erstellt. Die Serie entstand im Rahmen des künstlerisch-wissenschaftlichen Projekten "Nanometrische Visualisierungen", eine Kooperation zwischen der Fakultät der Bildenden Künste Barcelona, dem Nanotechnologie Forschungslabor der CREBEC und der Nanotechnologie-Plattform des Parc Científic de Barcelona.

Die zweidimensionale fotografische Vorlage wurde mit einem Rasterkraftmikroskop (atomic force microscope AFM) auf einen Materialträger aus Gold eingraviert und in eine Rastermikroskopie übertragen. Mit einer interaktiven Software konnte nun die Rastermikroskopie nach unterschiedlichen Kategorien variabel eingestellt werden, die denen kartograpischer Visualisierungssoftware nahe kommen.

Daraus entstand eine Bilderserie atomarer Topologien, die die Variabilität der Unterscheidung und der Form visualisiert. Die Einstellungen verändern die Form: die Vertiefung der Strandspur, wird zu ihrer inversen Form umgestülpt und verwandelt sich zu einer Bergkettenlandschaft.

Tenkan mountain

Spencer-Browns Definition von Form kann nicht nur ein Werkzeug für die Integration von verschiedenen Raumperspektiven sein, sondern auch von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Es kann in jeder Disziplin angewendet werden, denn es ist das einigende Prinzip hinter den verschiedenen Disziplinen. Sie überwindet die Abgrenzung disziplinärer Unterscheidungen, indem sie die Unterscheidung selbst als Form nutzt. Denn die Form integriert die Unterscheidung, und was es beinhaltet bzw. nicht beinhaltet. Sie ermöglicht die unendliche Setzung und Rekombination von Unterscheidungen ohne den Anspruch auf eine universelle Perspektive zu erheben.

Meta: »Die Unter|scheidung Zeit und Raum«.

Der gemeinsamer Ausgangspunkt dieses Textes entstand aus dem Zufall, dass wir beide in unseren jeweiligen Dissertationen die Schnitt|stelle im Titel und als wesentliches Strukturelement genutzt haben. Dabei ging Jutta von dem Körper als Schnitt|stelle zwischen Natur und Kultur aus, während Stella die Schnitt|stelle zwischen den Wissensfeldern Kunst, Wissenschaft und Technologie thematisierte. Intensive Gespräche ließen Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen. Es wuchs die Idee sich einer gemeinsamen Schnitt|stelle zu nähern und diese zu vertiefen. Aufbauend auf unsere theoretischen Arbeiten, entschieden wir uns für eine visuell-künstlerische Herangehensweise an die Schnitt|stelle.

Beide gingen wir von sehr persönlichen Alltagsritualen und Handlungsweisen aus, die wir auf unterschiedliche Weise bildnerisch dokumentiert und weiterverarbeitet haben. Die Umsetzung führte Jutta dazu ihre Bilder den Aneignungs- und Umwandlungsprozessen der sozialen Medien zu überlassen, während Stella ihre Bilder in den epistemischen Kontext der Nanotechnologie für die Entwicklung weiterer interdisziplinärer Wissensprozesse einband.

1. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 1997, 2.Aufl. München, Fink, p. 15;12

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2. "Only Two Can Play This Game". Cat Books, 17 Halifax Rd, Cambridge, UK. Published by George Spencer-Brown under the name of James Keys.

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Jutta Franzen

Dr. Jutta Franzen - Studium der Soziologie, 2006 Promotion an der FU Berlin zum Thema "SCHNITT/STELLE - Der Körper im Zeitalter seiner Herstellbarkeit". Jutta Franzen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim KMGNE in Berlin, ein interdisziplinäres Forschungs- und Bildungsinstitut für Gestaltung nachhaltiger Entwicklung, wo Wissenschaftskommunikation, Transmedia Storytelling und die Konzeption von offenen webbasierten Lernangeboten zu ihren Aufgaben zählen. Lehrbeauftragte für Mediensoziologie an der DIPLOMA, University of Applied Sciences in Berlin. In ihrem Blog "Alltagslabor" schreibt Jutta Franzen zu Themen aus Kultur, Kunst und Wissenschaft. mehr

stella veciana

Dr. Stella Veciana - Studium der experimentellen Künste (Universität der Künste, Berlin) und der Computerkunst (School of Visual Arts, New York). Promotion über die Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft (Fakultät der Bildenden Kunst, UB). Gründerin der Plattform Research Arts, die sich der transdisziplinären und partizipativen künstlerischen Forschung für Nachhaltigkeit verschrieben hat. Ihre Kunst wurde international in Museen, Galerien, Kunstzentren und Festivals sowie in Stiftungen, NGOs, Universitäten, Forschungszentren und Kongressen ausgestellt (Akademie der Künste Berlin, Kunsthalle Nürnberg, Hangar Barcelona, UNESCO, Heinrich-Böll-Stiftung, Brot für die Welt, ZEF Development Research Center, Degrowth Conference, KIBLIX Festival, etc.). Langjährige universitäre Lehrerfahrung (Facultad de Bellas Artes Barcelona, Leuphana Universität Lüneburg, Technische Universität Berlin, Universidad Politécnica Valencia, University of Saskatchewan Canada, etc.). Mitarbeiterin und Forscherin in inter/nationalen Projekten (Forschungswende, Soft Control, PIPES, Leben in zukunftsfähigen Dörfern). Manager nationaler und europäischer Projekte (ICN). Weiterentwicklung der Lehre als „Reallabore“ für Nachhaltigkeit (Leuphana Universität mit Ökodörfer). Mitglied der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler VDW. mehr

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